15.07.2011

Regel 40: Unser Leben hat nur Wert, wenn wir lieben

A life without love is of no account. Don’t ask yourself what kind of love you should seek, spiritual or material, divine or mundane, Eastern or Western…. divisions only lead to more divisions. Love has no labels, no definitions. It is what it is pure and simple. Love is the water of life. And a lover is a soul of fire. The universe turns differently when fire loves water.        

Ein Leben ohne Liebe hat keinen Wert. Frage dich nicht, welche Art der Liebe du suchen solltest, spirituell oder materiell, göttlich oder weltlich, östlich oder westlich … Trennungen führen dich nur noch zu mehr Trennungen. Die Liebe hat keine Etiketten, keine Definitionen. Sie ist, was sie ist, rein und einfach. Liebe ist das Wasser des Lebens. Und ein Liebhaber ist eine Seele aus Feuer. Das Universum dreht sich anders, wenn Feuer das Wasser liebt.


Ein Leben ohne Liebe bedeutet, das Lebendige bloß als Ding zu sehen, als Objekt ohne Eigenwert mit einem reinen Nutzungscharakter – die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. All das hat die Aufgabe, für meine Zwecke zu dienen und dafür verbraucht zu werden. Erst recht wird allem anderen, das existiert, also der unbelebten Natur, jeder Eigenwert abgesprochen.
Das materialistische Bewusstsein hat diese Sichtweise perfektioniert und damit die maximal mögliche Entfremdung, zu der Menschen fähig sind, hervorgebracht. Alles, was uns als Ding begegnet, ist uns fremd, weil es seiner Lebendigkeit entkleidet ist und wir nur zu etwas, das lebt, eine innere Vertrautheit entwickeln können. Es ist klar, dass wir uns damit auch von uns selbst abspalten, indem wir, ohne es zu merken, uns zu einem Ding machen, das optimal zu funktionieren hat. Das Lebendige wird zum Gegenüber, dem wir, sobald es sich unseren Zwecken entgegenstellt, mit Aggression begegnen. Wir verbünden uns in dieser Sichtweise schließlich mit dem Tod, indem wir das Leben zum Feind erklären. (Der Tod übrigens entzieht sich diesem Bündnisangebot, er lässt sich nicht instrumentalisieren, sondern meldet sich bei jedem Materialisten auf das Verlässlichste, wenn die Zeit dafür gekommen ist.)
Liebe dagegen ist das Einschwingen auf das Fließen des Lebens. Liebe ist, was Wachstum zulässt und fördert. Liebe gedeiht, wo die Angst eingedämmt worden ist. Die Liebe hat so viele Gesichter, wie es Momente zum Lieben gibt. Wir sind in der Liebe, wenn wir verbunden sind, mit den Menschen, mit der Natur, mit dem, was gerade geschieht, in uns und um uns herum.
Das Feuer der Liebe ist die Leidenschaft für das Leben und sein Wachstum. Wenn es in uns lodert, können wir sagen: Ja, wir können und wir wollen einen Unterschied machen, in dieser Welt, wir können uns mehr für die Kraft des Lebens öffnen und sie bewusst unterstützen und fördern. Die Arbeit, zu der uns das Feuer aufruft, ist es vor allem, unsere Ängste zu lösen und uns damit von unseren Einschränkungen zu befreien.
Das sollte zu unserer Leidenschaft werden, alles beiseite zu räumen, was uns an der Bewusstheit hindert, am Dasein im Moment, am Schwingen mit der Liebe. Wenn wir spüren, dass wir eine innere Blockade gelöst haben und wieder zurück in die Verbundenheit mit dem Leben finden, haben wir die Kraft des Feuers genutzt. Es brennt nieder, was nicht mehr gebraucht wird und im Weg steht. Es symbolisiert die Radikalität des Suchens (es geht um nicht mehr und nicht weniger als um den Weiterbestand des Lebens und der Menschlichkeit) und die Radikalität des Unterscheidens: Es gibt das Eintreten und den Einsatz für das Leben und den dagegen.
Die Liebe ist ein Kind der Freiheit, heißt es in einem französischen Sprichwort. Liebe lässt sich nicht einsperren von eifersüchtigen Hütern der „wahren Liebe“, sie lässt sich nicht in Besitz nehmen von Definierern und Kleingeistern. Liebe sprengt alle Grenzen und überwältigt deren Wächter im Handstreich. Liebe verändert ihr Antlitz in jedem Moment und zeigt sich immer von einer anderen Seite. Sie überrascht die Sucherin, wenn sie sie in einer Blume am Wegrand oder einem unscheinbaren Menschen auf der Straße findet.
Wenn wir meinen, wir müssten die göttliche Liebe finden, wie sie z.B. von Jesus Christus verkörpert wird, können wir auch dem Fehler verfallen, dass wir einem unerreichbaren Vorbild nachzueifern und dabei die weltliche Liebe übersehen oder geringschätzen: Die Liebe überall dort, wo Menschen andere unterstützen und ihnen dienen. Selbst in wirtschaftlichen Zusammenhängen, in denen jeder Dienst als entgeltliche Leistung definiert ist, kann Liebe wirken – wenn das Tun mit einem Erkennen und Sehen verbunden ist: auf das größere Ganze, das alles umfasst und dem letztlich alles dient. Ich muss also die Liebe nicht an meiner Haustüre abgeben, sondern kann sie mitnehmen und spüren, wenn ich den unbekannten Menschen auf der Straße begegne, wenn ich dem Lenker des Buses, in den ich steige, dankbar bin, wenn ich Mitgefühl für die Mutter habe, die drei kleine Kinder in den Kindergarten bringt, mit dem alten Mann, der schlecht geht oder mit der Geschäftsfrau, die von Stress geplagt ist usw.
Das gilt auch für unsere Tätigkeiten und Berufe, mit denen wir unseren Lebensunterhalt verdienen. Wo immer und was immer wir arbeiten, können wir es mit Beiläufigkeit oder Widerwillen tun oder aber mit Bewusstheit und Offenheit für den Dienst, den wir dem Ganzen und den anderen Menschen mit unserem Tun erweisen. Dann fließt die Kraft der Liebe in das, was wir häufig nur unter dem Blickpunkt von Pflicht und Zwang sehen. Wir verwandeln damit das Müssen in ein Wollen und verbinden uns mit dem Fluss des Lebens, statt uns gerade in dem, dem wir die meiste Energie und Anstrengung geben, mit innerem Widerstand zu blockieren.
Jesus hat beispielhaft gezeigt, wem besonders unsere Liebe gelten soll: Den Sünderinnen und den Ausgegrenzten, nicht bloß denen, die wir sowieso mögen; den Feinden, die uns zuwider sind, und nicht bloß den Freunden. Es werden immer wieder Menschen in unser Leben treten, mit denen wir „nicht können“ – als Kollegen oder Vorgesetzte, als Nachbarn oder Zeitgenossen in der Medienlandschaft. Statt diese Menschen abzuwerten, wie es unsere erste Reaktion vorgibt, die aus irgendwelchen oberflächlichen Merkmalen der anderen Person entsteht, können wir versuchen, in ihnen einen tieferen Kern zu sehen – einen Kern, der sie zu wertvollen und einzigartigen Menschen macht, uns selbst gleich in unserem Wert und unserer Einzigartigkeit. Wir brauchen uns nur mit diesem Kern zu verbinden, und alles, was wir ihnen vorwerfen oder an ihnen nicht mögen, wird nebensächlich und unbedeutend.
Wir sollen unser Mitgefühl ausdehnen über die Grenzen der Gewohnheit und der Bequemlichkeit, das ist die Botschaft von Jesus. In jedem Mitgefühl, das uns über unseren Binnenraum hinaus ausdehnt, machen wir die Welt insgesamt größer und reicher. Dann wird sie ein Platz, an dem wir wirklich leben und uns in Frieden entfalten können. Indem wir uns auf das Mitgefühl, das uns die Liebe öffnet, einlassen, merken wir, dass es von selbst wachsen will. Es gibt keine Grenze, die diese Expansion aufhalten kann. Sie strebt zum Ganzen und ist erst zufrieden, wenn sie alles umfassen kann. Als Einzelnen kann uns das im Leben nie gelingen, doch in der Verbindung mit allen werden wir ein Netz der Liebe um die Welt spannen. An uns liegt es nur, unseren bestmöglichen Beitrag zu geben.
In diesen Formen und Übungen der Ausdehnung, die das Wesen der Liebe ausmachen, verknüpfen wir das Weltliche mit dem Göttlichen, bzw. nehmen wir seine innere Verschränkung wahr, dass das Göttliche nichts anderes ist als das Weltliche und umgekehrt. (Das Göttliche sehen wir nirgends anders als in der Welt; selbst wenn uns Gott erscheinen sollte, tut er das in der Welt der sichtbaren Dinge. Auch in jeder anderen Form, in der wir mit Gott in Kontakt treten oder er mit uns, begegnet sich Göttliches und Weltliches.)

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com.
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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