29.05.2011

Regel 22: Der innere Friede ist überall

When a true lover of God goes into a tavern, the tavern becomes his chamber of prayer, but when a wine bibber goes into the same chamber, it becomes his tavern. In everything we do, it is our hearts that make the difference not our outer appearances. Sufis do not judge other people on how they look or who they are. When a Sufi stares at someone, he keeps both his eyes closed and instead opens a third eye – the eye that sees the inner realm.

Wenn ein wirklicher Liebhaber Gottes in eine Taverne geht, wird die Taverne seine Gebetskammer, aber wenn ein Weintrinker in die gleiche Kammer geht, wird sie seine Taverne. In allem, was wir tun, ist es unser Herz, das den Unterschied macht, nicht unser äußerliches Erscheinungsbild. Sufis beurteilen nicht andere Menschen danach, wie sie ausschauen oder wer sie sind. Wenn ein Sufi jemanden anstarrt, hält er beide Augen geschlossen und öffnet statt dessen ein drittes Auge – das Auge, das den Innenraum sieht.

Meditation im Alltag ist das eine Thema dieser Regel. Und das ist das Thema für jeden Meditierer, der nicht in einem geschlossenen Kloster, Ashram oder Retreatzentrum lebt, sondern sich im Alltag, mit Büro und Taverne bewegt. Wie kann ich in der Beziehung zur inneren Stille bleiben, wenn ich mich durch die „Welt“ bewege, die voll von Ablenkungen, Reizen und Einflüssen ist? Wie kann ich die Gelassenheit und den Gleichmut bewahren, wenn Menschen um mich herum hektisch sind?

Wie können wir also die Welt zur Kirche, zum Tempel oder zur Gebetskammer machen? Indem wir nicht am Äußerlichen der Welt hängenbleiben, an den glitzernden oder abstoßenden Erscheinungen, die unsere Sinne bannen und uns von uns weg zu sich hin ziehen wollen. Am mächtigsten wirken wohl die Angebote der Werbung, schließlich steckt ein riesiges Wissen und intensive Forschung dahinter, die Aufmerksamkeit mit aller Gewalt auf sich zu ziehen und nicht mehr loszulassen, sodass unsere Gehirnwindungen gar nicht anders können als sich in den Bann ziehen zu lassen. Am schwächsten wirken die Reize der Natur, sie sind sanft und spiegeln unser Inneres wieder.

Es heißt also Widerstand leisten gegenüber den Reizüberflutungen, die auf uns hereinbranden, wenn wir uns durch das Dickicht des normalen (Wahnsinns-)Alltags bewegen. Wir können das bewerkstelligen, indem wir immer wieder die Beziehung zu uns selbst aufnehmen, am einfachsten über die Beobachtung des Atems. Dann merken wir: Wir sind es, die sich da treiben lassen von den Zielen, die wir uns setzen und von den Irritationen, die sich in den Weg stellen. Wir sind noch etwas mehr, hinter diesen Zielen, Erwartungen, Wünschen und Bedürfnissen, die uns beschäftigen.

So können wir eine Distanz schaffen zu den Vorgängen um uns herum und in uns drinnen, die uns gewahr werden lässt, was es noch mehr gibt als all das, etwas Größeres und Bedeutsameres. Denn im inneren Gebetsraum der Stille zeigt sich, was wahr ist und worum es in Wahrheit geht, dann fällt das ab, was uns Sorgen, Ängste und Nöte bereitet.

Wenn wir aus diesem Raum heraus, den wir beständig in uns tragen (aber vielleicht nur recht selten aufsuchen), anderen Menschen begegnen, brauchen wir nicht auf ihr Äußeres starren, brauchen wir auch nicht die oberen Schalen ihres Inneren beurteilen und analysieren, wo ihre Fehler, Schwächen und Schattenseiten gespeichert sind, sondern können wir Kontakt aufnehmen mit dem Gebetsraum unseres Gegenübers. Das ist eine herausfordernde und lohnende Übung, die so viel zum Frieden in dieser Welt beitragen könnte. Innerer Friede, der den Frieden in den Mitmenschen erkennt, stärkt diesen Frieden in ihnen.

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Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. http://www.elifshafak.com/
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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