24.05.2011

Regel 20: Mach den ersten Schritt, alles weitere wird folgen

Fret not where the road will take you. Instead concentrate on the first step. That’s the hardest part and that’s what you are responsible for. Once you take that step let everything do what it naturally does and the rest will follow. Do not go with the flow. Be the flow.

Mach dir keine Sorgen damit, wohin dich die Straße führen wird. Konzentriere dich statt dessen auf den ersten Schritt. Das ist der schwerste Teil, und das ist das, wofür du verantwortlich bist. Wenn du einmal den Schritt nimmst, lass alles geschehen, was natürlicherweise geschieht, und der Rest wird folgen. Geh nicht mit dem Fluss. Sei der Fluss.

Wir hängen uns manchmal an Erwartungen, möglichst weit in die Zukunft hinein, bis uns schwindlig wird. Wir denken: Wenn wir wissen, wie es in zwei, fünf oder zehn Jahren sein wird, können wir jetzt die richtige Entscheidung treffen. Doch je weiter wir in die Zukunft schauen, desto unsicherer wird das Terrain. Wenn du den Rauch anschaust, der aus einem Räucherstäbchen strömt, merkst du, dass die erste Strecke, ein paar Zentimeter, gerade nach oben geht, und dann kräuselt sich der Rauch in immer neuen Mustern. Das ist ein Beispiel aus der Chaostheorie, die beweisen konnte, dass es über die erste Strecke hinaus keine Möglichkeit gibt, zu berechnen, was dann folgt, ein Kräuseln in die eine oder die andere Richtung, größer oder kleiner usw.

Ähnlich geht es uns mit unserer Zukunft. Entfernt sie sich von uns, wird sie unschärfer und ungewisser und verläuft sich in der Unvorhersehbarkeit. Aber bei vielen ist der Drang ungebrochen, zu wissen, was dann sein wird. Also suchen viele Leute Wahrsager und Hellsichtige auf, die weissagen sollen, was sein wird. Zugleich sollten wir wissen, dass diese Prophezeiungen manchmal zutreffen und manchmal nicht. Und wir können von vornherein nicht wissen, welche dieser Aussagen die zutreffenden sind und welche in die Fehlerquote fallen.

Deshalb müssen wir uns auf das Mysterium Zukunft einlassen, und je weniger unsere Erwartungen konkret in unserem Kopf ausformuliert sind, desto leichter können wir annehmen, was die Zukunft mit uns vorhat. Die lineare Zeit als Dominante der Zeitwahrnehmung ist eine Errungenschaft der jüngeren Zeit. Bei Völkern und Stämmen, die in engem Kontakt mit der Natur leben, herrscht ein zyklisches Denken vor, das frei von Wertungshierarchien ist. Der Frühling ist bloß anders und nicht besser als der Sommer, und die Abfolge dieser Jahreszeiten ist eine der Verlässlichkeiten.

Durch die Kleinräumigkeit des Lebenskreises war auch die Anzahl möglicher Veränderungen reduziert und eingeschränkt. Während wir z.B. unter Tausenden von Urlaubsmöglichkeiten in allen Graden der Entfernung wählen können und über jede der Möglichkeiten innere Bilder und Erwartungen aufbauen, ist der räumliche Radius für Menschen in dieser Kulturstufe durch die Kraft ihrer Füße definiert und durch die Entfernung, die sie in einem oder höchstens mehreren Tagen hin- und auch wieder zurückgehen können.

Je weiter wir uns aus dieser Lebens- und Bewusstseinsform herausentwickelt haben, desto größer wird unser Möglichkeitsraum, desto mehr könnte in der Zukunft passieren, und desto mehr könnte passieren, was unsere Erwartungen und Planungen durchkreuzt. So sehen wir uns gezwungen, uns noch mehr mit der Kontrolle der Zukunft zu beschäftigen, indem wir alle dort lauernden Risiken zeitgerecht auszuschalten oder zu umgehen trachten. Und zugleich gelingt es uns weniger als je zuvor, diese Zukunft zu kontrollieren, wegen ihrer zunehmenden Komplexität.

Wenn wir den Schritt von den Ängsten in die Weisheit wagen, heißt das, dass wir uns der Wirklichkeit und ihren Herausforderungen anvertrauen. Die Wirklichkeit lässt sich nicht kontrollieren und verhält sich unseren Erwartungen gegenüber verständnislos und gleichgültig. Deshalb ist es ratsam, auf Kontrolle und Erwartungen so weit zu verzichten, so weit uns das möglich ist. Dort wo es nicht möglich ist, hält uns eine innere Angst in ihrem Bann. Wenn wir das anerkennen, können wir diesen Bann schwächen und mehr von dem Vertrauen in das Fließen des Lebens zulassen.

Denn das Leben fließt, gleich ob wir ihm vertrauen oder nicht. Es nimmt uns mit und trägt uns, ob wir vermeinen, die Steuerruder in den Händen zu haben, oder ob wir merken, dass die steuernden Bewegungen unserer Hände selber ein Fließen sind. Wenn uns das bewusst wird, sind wir der Fluss.

Das erste Hineinsteigen in den Fluss resultiert aus einer inneren Entscheidung, die im Tiefsten zwar nicht von unserem bewusst empfundenen Wollen, sondern aus uns unbekannten Quellen gesteuert wird. Doch können wir an dieser „Illusion“ der bewusst gesetzten Absicht festhalten, um nicht auf die Verantwortung zu vergessen, die mit Entscheidungen verbunden ist.

Manchmal bereuen wir Entscheidungen und wollen sie am liebsten wieder rückgängig machen, wenn wir sehen, was dadurch ausgelöst wird und schiefläuft. Wir fühlen uns mit der Verantwortung für diese Entscheidung überfordert und wollen den Konsequenzen ausweichen. Doch was geschehen ist, ist geschehen, die Geschichte lässt sich nicht zurückspulen. Das Hadern über die nicht mehr existente Vergangenheit sollten wir in ein Lernen übersetzen über das, was wir anders machen können, jetzt und in Zukunft. Wenn wir dem Fluss vertrauen, wissen wir, dass wir die Kraft haben, alle Herausforderungen, die sich auf der Reise stellen, zu meistern, wie jeder Fluss den Weg zum Meer meistert, gleich welche Widerstände sich dazwischen legen.

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Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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