21.05.2011

Regel 18: Wer sich selbst kennt, kennt Gott

The whole universe is contained within a single human being – You. Everything that you see around, including the things you might not be fond of and even the people you despise or abhor, is present within you in varying degrees. Therefore do not look for Satan outside of yourself either. The devil is not an extraordinary force that attacks from without. It is an ordinary voice within. If you get to know yourself fully, facing with honesty and hardness both your dark and light sides, you will arrive at a supreme form of consciousness. When a person knows himself or herself, he or she knows God.

Das ganze Universum ist in einem einzelnen Menschenwesen enthalten – in dir. Alles, was du um dich herum siehst, die Dinge mit eingeschlossen, die du nicht magst und sogar die Leute, die du verachtest oder verabscheust, ist in dir gegenwärtig in unterschiedlichem Ausmaß. Suche also auch den Teufel nicht außerhalb von dir. Der Teufel ist keine außergewöhnliche Macht, die dich von außen angreift. Es ist eine gewöhnliche Stimme in dir. Wenn du dich selbst voll kennen lernst, wenn du mit Ehrlichkeit und Konsequenz zugleich deinen dunklen und hellen Seiten stellst, wirst du auf einer erhabenen Ebene des Bewusstseins ankommen. Wenn jemand sich selbst kennt, kennt er/sie Gott.

Das holographische Geheimnis, das die Mystiker aller Zeiten verkündet haben, kann uns Angst machen. Alles soll in mir sein, dieses riesige Universum, diese Unmenge an Informationen, diese breite Palette an Gefühlen, Motiven, Ideen und Einstellungen? Wie soll ich damit je zurechtkommen, wie soll ich mich in diesem Universum jemals selbst finden? So vieles möchte ich los werden und vergessen, so viel lastet mir schon auf der Seele und im Verstand, ich will endlich Ruhe und mich nur um meine Sachen kümmern.

Die Mystikerin ist nicht an Theorien über die Welt und die Menschen interessiert. Sie möchte lebenspraktisch wirken: Wie können die Menschen von ihrem Leiden befreit werden und wie kann daraus ein besseres Zusammenleben der Menschen entstehen?

Für uns aufgeklärte oder nachaufklärerische Menschen fällt der Einstieg in eine mystische Thematik, deren Stimmigkeit wir vielleicht intuitiv teilen, leichter, wenn wir sie als Arbeitshypothesen verstehen: Wir wenden die These versuchsweise an, so, als würde sie stimmen und halten uns im Hinterkopf die Möglichkeit offen, sie zu revidieren, wenn sie nicht funktioniert. Was würde das für unsere sozialen Interaktionen und für unsere soziale Wahrnehmung bedeuten, sollte das ganze soziale Universum in uns enthalten sein?

Wenn also alle Phänomene und Spielarten zwischenmenschlichen Verhaltens in uns gefunden werden können, wenn uns also (nach Cicero) „nichts Menschliches fremd“ ist, bedeutet es, dass uns andere Menschen einen Spiegel vorhalten in ihrem uns störenden Verhalten. Was uns an anderen aufregt, zeigt uns, worüber wir uns aufregen, zeigt uns also, womit wir in der Welt nicht zurecht kommen, zeigt uns folglich, wo unsere eigenen Unzulänglichkeiten liegen. Wenn uns der Geiz von jemand anderem ärgert, heißt das, dass wir Geiz kennen, und wir kennen nur etwas, was in uns selber vorhanden ist. Dass uns etwas, was es in uns gibt, ärgert, bedeutet, dass wir mit einem Teil von uns selbst nicht produktiv oder kreativ umgehen können, sondern nur abwehrend und verdammend. Ohne es zu merken, richten wir die Abwehr und die Verdammung gegen uns selber und engen wir uns ein.
Wieder liegt unsere Chance zum Wachsen darin, dass wir Bewusstheit schaffen:  wir nutzen die Arbeitshypothese, dass uns andere einen Spiegel vorhalten, sobald wir uns über sie ärgern oder ihr Verhalten ablehnen. Damit können wir den Blick umlenken von außen nach innen und finden im Inneren unentdeckte verborgene Aspekte unseres Selbst. Dabei kommt uns der Teufel zu Hilfe. 

Der Teufel wurde lange genug verteufelt: Als eine Macht, die sich irgendwo im Verborgenen aufhält und aus dem Hinterhalt Verderben ins Leben der Menschen bringt. Alles Böse muss auf einen Bösewicht zurückgehen. Damit haben wir immer eine Ausrede und einen Sündenbock: Den bocksbeinigen gehörnten Satan. Allmächtig wie er ist, darf es uns nicht wundern, dass wir immer wieder schwach werden.

Der Mystiker kümmert sich nicht um theologische Fragen über den Ursprung oder die Quelle des Bösen. Er zeigt auf die Menschen und ihre Neigungen, Böses zu tun und darauf zu vergessen, Gutes zu tun. Da braucht es gar keinen Teufel als Urheber. Sobald das geschieht, ist der eigentliche Teufel am Werk, unsere Unvollkommenheit, die alltägliche Stimme der Selbstverstricktheit, nicht mehr und nicht weniger. 

Das bedeutet aber auch, dass die eigentliche Macht in uns selber liegt. Können wir uns folgoich in jedem Moment entscheiden, dem Teufel oder der Liebe zu folgen? Wenn wir näher in uns hineinleuchten, werden wir vielleicht erkennen, dass wir eigentlich nie bewusst und überlegt die Entscheidung für den Teufel treffen, sondern dass etwas in uns, was scheinbar nicht in unserer Gewalt ist, unsere Handlungen lenkt, und nachher wachen wir auf und sagen uns, da hätten wir uns anders verhalten sollen. Wir bekommen z.B. einen Wutanfall, weil uns jemand ungerecht behandelt und werden dabei noch ungerechter als wir selbst behandelt wurden. Später erkennen wir, dass wir dem anderen mehr angetan haben als uns angetan wurde, aber auch, dass das nicht unsere Absicht war, sondern dass wir in der Situation nicht mehr bewusst entscheiden konnten.

Das in uns, das wir nicht kontrollieren können, das in einem dunklen Moment Besitz von uns ergreift und gerade deshalb Böses anrichten kann, ist eben nicht eine äußere Instanz, sondern etwas, das sich in uns festgesetzt hat als angstgesteuertes Reaktionsmuster, das auf Knopfdruck von außen aktiviert werden kann und uns vom liebevollsten im nächsten Moment zum abscheulichsten Wesen verwandeln kann. 

Wir sind also wieder herausgefordert, in uns selbst zu schauen, die Tiefe unseres Herzens, unsere Mördergrube zu erkunden.  Dazu braucht es die Kraft der Ehrlichkeit und der Konsequenz und des Mutes. Schließlich konfrontieren wir dabei niemand geringeren als den Teufel, und mit dem lässt sich meist schlecht spaßen. Doch lebt dieser innere Teufel nur dadurch, dass er sich gut verstecken kann. Sobald wir ihm ins Angesicht widerstehen, schwindet er und seine dunkle Macht dahin. Mit jedem Sieg, den wir in dieser Auseinandersetzung erringen, gewinnen wir an Bewusstsein dazu und erweitern wir das freie Land in uns, in dem Milch und Honig fließen.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen