15.05.2011

Regel 15: Das Leben als Kunstwerk

God is busy with the completion of your work, both outwardly and inwardly. He is fully occupied with you. Every human being is a work in progress that is slowly and inexorably moving towards perfection. We are each an unfinished work of art, both waiting and striving to be completed. God deals with each of us separately because humanity is a fine art of skilled penmanship where every single dot is equally important for the entire picture.

Gott ist ganz mit der Vollendung deiner Arbeit beschäftigt, sowohl innerlich wie äußerlich. Er ist ganz mit dir beschäftigt. Jedes Menschenwesen ist ein Projekt im Werden, das sich langsam und unweigerlich der Vollendung annähert. Wir alle sind ein unfertiges Kunstwerk, das zugleich auf die Fertigstellung wartet und danach strebt. Gott nimmt sich um jeden einzelnen von uns an, weil die Menschheit eine feine Kunst von gediegener handwerklicher Meisterschaft ist,  bei der jeder einzelne Punkt gleichermaßen wichtig ist für das gesamte Bild.

Gott arbeitet an der Evolution des Bewusstseins. Oder er selber ist die treibende Kraft im Zentrum der Evolution, wie auch immer die Theologen diese Frage zu entscheiden vermögen oder belieben. Wir können uns also entspannen: Es liegt nicht allein daran, dass wir uns dauernd anstrengen und bemühen, sondern in diesem Arbeiten arbeitet die höhere Kraft in uns. Noch dazu: wir, die Elemente in diesem Schöpfungsprozess, brauchen uns nicht nur auf die treibenden Kräfte in uns verlassen, sondern auch in unseren Weggefährten und in der Menschheit als ganzer. 

Wieso sollte Gott auch wollen, dass nur wir weiterkommen und nicht gleichermaßen alle anderen auch? Es fällt uns nur nicht auf, weil wir denken, die anderen müssten sich so ähnlich verhalten wie wir selber, damit wir annehmen können, dass sie am Weg zur Vollendung sind.

Wenn wir jemanden mit verzücktem Blick und verschränkten Beinen auf der Parkbank sitzen sehen, nehmen wir vermutlich leichter an, dass er gerade von höheren Kräften bearbeitet wird, als bei der alten Dame, die gerade auf ihren Hund schimpft. Aber wieso sollte bei ihr nicht ebenfalls die Eingebung von oben am Werk sein und wundersame Wirkung zeigen, die sich nur unserem voreingenommen Blick nicht offenbart?

Das Ziel der Evolution des Bewusstseins liegt nicht darin, dass einzelne Menschen mit ihren besonderen Leistungen oder Begabungen hervorragen. Es ist vielmehr erst erreicht, wenn jeder Mensch sich voll und ganz entfaltet hat, d.h. wenn jeder Mensch seine inneren Ängste abgebaut und seine innere Freiheit gewonnen hat und für sich und die Welt nutzt.

Gott hat ein gigantisches Projekt begonnen mit dem Auftreten der Menschen im Naturzusammenhang. Die Natur trägt die Vollendung in sich und vollzieht sie in all ihren Abläufen. Sie geht gewissermaßen von einem Moment der Vollendung zum nächsten. Sie braucht nicht anders zu werden als sie ist. Es ist gleichermaßen Teil dieser Vollendung, wenn neue Pflanzenarten entstehen und alte aussterben, wenn die einen Tiere die anderen jagen und erlegen, wenn Erdbeben Landschaften umkrempeln und Vulkanausbrüche die Vegetation im Umkreis zerstören. 

Doch das Projekt Mensch ist von anderem Zuschnitt und Kaliber. Es handelt von einem Wesen, das mit einem Überschuss an Reflexion und Kreativität ausgestattet ist und deshalb keine vorgegebene Vollendung in sich tragen kann. Jeder Mensch wird erst zum Kunstwerk, indem er sich dazu macht, bzw. indem er sich dazu werden lässt, und das geschieht in Zwiesprache und Abstimmung zwischen oben und unten, zwischen dem Meister und seinem Kunstwerk.

Das Kunstwerk gewinnt erst in seinem Werden die Form, die seiner Vollendung entspricht. Was immer der Künstler am Beginn eines Werkes geplant haben mag, kann nicht das sein, was dann am Ende herauskommt. So wie das Kunstwerk in seinem Werden in Dialog mit dem Künstler tritt, Fragen stellt und Ansprüche formuliert, bis in einer gemeinsamen Anstrengung seine Vollendung erreicht ist, so  stellt sich der Schöpfungsprozess des Menschen und der Menschheit dar – im Dialog mit dem Künstler, der durch die Rückmeldung erst erfährt, wie die Vollendung ausschauen kann und was dazu noch fehlt. 

Es findet also ein dauernder und „ergebnisoffener“ Austausch zwischen Mensch und Gott sowie zwischen Menschheit und Gott statt, und in diesem Kommunikationszusammenhang wird zunehmend klarer, worauf alles hinausläuft.  Die abstrakte Idee davon ist schon vorhanden (ein angstfreier welt- und liebesoffener Mensch), aber die Form findet sich in jedem individuellen Schöpfungsablauf erst durch die jeweilige Ausgestaltung. Und da hat auch das „Werk“ etwas mitzureden und mitzugestalten. 

Unser Streben nach Weiterentwicklung und die Unterstützung, die uns die göttliche Kraft dazu gibt, spielen untrennbar zusammen. Deshalb brauchen wir uns unseres Teiles daran nicht zu brüsten, sondern können uns auch hier wieder in Dankbarkeit üben.


Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010 - noch nicht auf Deutsch erschienen) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.

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