03.05.2011

Regel 8: Verzweiflung und Dankbarkeit

Whatever happens in your life, no matter how troubling things may seem, do not enter the neighbourhood of despair. Even when all doors remain closed, God will open up a new path only for you. Be thankful!  It is easy to be thankful when all is well. A Sufi is thankful not only for what she/he has been given, but also for what she/he has been denied.

Was immer auch geschieht, wie schlimm die Dinge auch zu sein scheinen, begib dich nicht in die Nähe der Verzweiflung. Auch wenn alle Türen geschlossen bleiben, wird Gott einen neuen Weg öffnen, nur für dich. Sei dankbar! Es ist leicht, dankbar zu sein, wenn alles gut ist. Ein Sufi ist nicht nur dankbar für das, was er/sie erhalten hat, sondern auch dafür, was ihm/ihr verweigert wurde.

Verzweiflung, die dunkle Nacht der Seele, ist ein Zustand, in dem alle Brücken nach außen abgebrochen scheinen und nur ein lichtloses Inneres übrigbleibt. In dieser Finsternis auszuharren, ist die schwierigste Übung auf dem Weg nach innen. Wenn dies gelingt, angesichts der Aussichtslosigkeit präsent zu bleiben und nicht zu fliehen, hat das Ego seine ganze Macht eingebüßt. Darin liegt die eigentliche Rolle der Verzweiflung – sie bietet einen unerbittlichen Prüfstein für die Sucherin, wieweit sie bereit ist, sich dem hinzugeben, was die Existenz vorgibt. Solange sie dagegen ankämpft, indem sie Schuldige sucht oder Gott verflucht oder in dumpfer Resignation versinkt, hat sie das Geschenk nicht erkannt. Wenn es aber die Existenz gnädig vermeint und die Kraft zum Ausharren gibt, dann liegt darin schon der Umschwung und der Schritt auf eine neue Ebene des Bewusstseins. 

Hermann Hesse hat geschrieben: "Die Verzweiflung schickt uns Gott nicht, um uns zu töten, er schickt sie uns, um neues Leben in uns zu erwecken."  (Das Glasperlenspiel)

Die Dankbarkeit sollte unsere permanente und alltägliche Übung sein. Wie leicht vergessen wir, dass alles nur Gabe ist, dass wir alle begabt sind mit dem, was uns leben lässt, begonnen mit dem einfachsten Atemzug, zu dem uns die Luft und die Energie geschenkt ist. Wenn wir so weit sind, diese Haltung der Dankbarkeit zu kultivieren, werden wir uns leichter tun, die sperrigen Erfahrungen des Lebens in dieser Haltung anzunehmen, weil wir wissen, wieviel das Leben für uns übrig hat, wie gut es für uns sorgt und wieviel unerkannt Gutes auch in den widrigen Erfahrungen stecken kann.

Der Mystiker hat erkannt, dass alles, was geschieht, ein Geschenk ist, für das Dankbarkeit angebracht ist. Er hat auch erkannt, dass alles, was an Wohltaten gegeben ist, vergänglich ist. Er versteht auch, dass in den Erfahrungen, die unserem Geschmack entgegenkommen, uns gefallen und beglücken, zugleich ein Verweigern ist, denn jede noch so angenehme Erfahrung schiebt sich vor eine andere Erfahrung, die noch wichtiger sein könnte. Auch jedes wunderbare Geschenk vernichtet die Möglichkeiten anderer Geschenke. Darum ist dem Mystiker alles Kleine groß und alles Große klein.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.


2 Kommentare:

  1. Dankbarkeit auch für die Fährnisse des Lebens; was soll man sonst machen?
    Wenn’s allerdings gerade schiefläuft, kann man sich daran schwer erinnern…
    Guter Text, gefällt mir.
    Shunyam Fischer, Berlin

    AntwortenLöschen
  2. Es fällt leicht, mich für die anerkennenden Worte zu bedanken. Wenn's schiefläuft, kommen wir oft erst viel später drauf, warum wir gleich hätten dankbar sein können. Wenn wir es schaffen, diesen Abstand zu verringen, verringern wir auch unsere Unzufriedenheit.
    Alles Liebe nach Berlin

    AntwortenLöschen