25.04.2011

Regel 3: Die innere Bedeutung der Lehren

Each and every reader comprehends the Qur’an on a different level in tandem with the depth of his understanding. There are 4 levels of insight. The first level is the outer meaning and it is the one that the majority of people are content with. Next is the Batin- the inner level. Third there is the inner of the inner. And the fourth level is so deep it cannot be put into words and is therefore bound to be indescribable. Scholars who focus on the Sharia know the outer meaning. Sufis know the inner meaning. Saints know the inner of the inner. The fourth level is known by prophets and those closest to God. So don’t judge the way other people connect to God. To each his own way and his own prayer. God does not take us at our word but looks deep into our hearts. It is not the ceremonies or rituals that make a difference, but whether our hearts are sufficiently pure or not.

Jeder einzelne Leser begreift den Qur’an auf einer unterschiedlichen Ebene hinter der Tiefe seines Verständnisses. Es gibt vier Ebenen der Einsicht. Die erste Ebene ist die äußere Bedeutung, und sie ist diejenige, mit der die Mehrheit der Menschen zufrieden ist. Dann kommt das Batin – die innere Ebene. Drittens gibt es das Innere des Inneren. Und die vierte Ebene ist so tief, dass sie nicht in Worte gefasst werden kann und daher unbeschreibbar bleiben muss. Gelehrte, die sich auf die Sharia konzentrieren, kennen die äußerliche Bedeutung. Sufis kennen die innere Bedeutung. Heilige kennen das Innere des Inneren. Die vierte Ebene ist den Propheten bekannt und jenen, die Gott am nächsten sind. Also beurteile nicht die Weise, wie sich andere Menschen mit Gott verbinden. Jedem seine eigene Weise und sein eigenes Gebet. Gott nimmt uns nicht beim Wort, sondern schaut tiefer in unsere Herzen. Es sind nicht die Zeremonien oder Rituale, die den Unterschied machen, sondern ob unsere Herzen ausreichend rein sind oder nicht.

Was hier über den Koran bemerkt wird, gilt natürlich auch für die anderen heiligen Bücher und Schriften in anderen Religionen und Traditionen. Vom Modell der Bewusstseinsstufen aus betrachtet, befinden wir uns bei der ersten Ebene der Einsicht auf der hierarchischen Stufe. Spirituelles und geistiges Wissen wird hier als Herrschaftswissen eingerichtet. Aus den heiligen Schriften werden Gesetze abgeleitet, um das Verhalten der Menschen zu steuern und zu regulieren. Die Menschen sollen sich bei Fehlverhalten nicht nur vor den Strafen der weltlichen Gerichte fürchten, sondern auch vor den jenseitigen Ahndungen, wie schon im Kommentar zur zweiten Regel angemerkt wurde. Seit der Aufklärung, die im Westen viel stärkere Folgen hatte, weil sie hier auf der materialistischen Bewusstseinsschicht aufbauen konnte, ist die Verquickung von Kirche und weltlichen Unterdrückungs- und Herrschaftssystemen einer der Hauptpunkte an der Kritik an den Religionen und hat zur Verbreitung des Atheismus geführt. Karl Marx hat z.B. die Formel der Religion als „Opium des Volkes“ geprägt, dass also die Religion dazu missbraucht wird, die Menschen vom Unrecht, unter dem sie leiden, abzulenken und auf das Jenseits zu vertrösten, in dem dann alles Unrecht und jede Ausbeutung ausgeglichen würde.

Deshalb betrachtet der Westen die islamische Welt und insbesondere die Staaten, die die Sharia als Rechtssystem verwenden, mit besonderem Misstrauen. Wir sehen allerdings, dass es auch innerhalb des Islams eine Kritik an der äußerlichen Auslegung der heiligen Schriften gibt. Sobald die wörtliche Auslegung der Texte und die daraus abgeleiteten Regeln für die Gesellschaft verlassen werden, werden diese nicht, wie die Aufklärung angenommen hat, bedeutungslos, sondern offenbaren eine „innere Bedeutung“. Diese ist nicht mit einem Gottesbild der Angst und Strafe (vgl. Regel 1) zugänglich, sondern nur mit der „Logik des Herzens“ (Blaise Pascal), also mit der besonderen Kraft der Liebe und der menschlichen Verbundenheit. Dann verschwindet die Tendenz der Verurteilung anderer Glaubensformen von selber, jede Weise des Glaubens wird akzeptiert und als besonderer Weg zu Gott verstanden. Die Inquisition wird in die dunklen Seiten der Geschichte verbannt und der Begriff der Ketzerei wird bedeutungslos.

Und wir finden eine Form der Toleranz, die ihre Begründung in einer vertieften Form der Religiosität, und nicht in der formalen Gleichheit der Menschen gemäß dem materialistischen Weltbild findet. Wer die anderen Menschen mit dem Blick des Herzens betrachtet – oder, in moderner Wissenschaftssprache – im Modus des smarten Vagus des vegetativen Nervensystems, der wird es nicht zuwege bringen, andere Menschen wegen ihrer Art der Suche nach Gott zu bekämpfen oder abzulehnen, im Gegenteil, er wird wissen, dass jede Verurteilung einer anderen Person eine Abwendung vom eigenen spirituellen Weg, eine „Verunreinigung“ des eigenen Herzens bedeutet.

In einem Buch von Reishad Feild habe ich die folgende Geschichte gefunden:
 
In einer Hafenstadt lebt ein Imam, der für seine Gottesfürchtigkeit und gesetzestreue Frömmigkeit bekannt und angesehen ist. Er erfährt, dass auf einer Insel vor der Küste ein Einsiedler lebt, und beschließt, diesen zu besuchen, um zu überprüfen, ob sich dieser auf dem richtigen Weg des Glaubens befindet. So setzt er sich in ein Boot und rudert auf die Insel. Dort angekommen, hört er den Derwisch beten. Als er näher kommt, bemerkt er, dass jener die Anbetungsformel Gottes umgedreht hat und betet: „ilAllah la ilaha“ statt  „La ilaha ilAllah“ (Es gibt keine Gottheit außer Gott).
Ui, ui, das kann nicht gut gehen, da wird Gott zornig sein, wenn er das hört. Also geht er zu dem Derwisch und erklärt ihm, was er falsch macht und wie es richtig geht. Dieser bedankt sich und verspricht, ab nun richtig zu beten. Zufrieden wendet sich der Imam zum Gehen, steigt in sein Boot und rudert zurück. Er hat wieder etwas in dieser verwirrten Welt in Ordnung gebracht und einem Menschen zum rechten Weg verholfen. Auf halbem Weg zurück zur Hafenstadt traut er seinen Augen nicht: Da bewegt sich etwas auf der Wasseroberfläche auf das Boot zu, es ist der Derwisch, der auf den Wellen läuft, als wären es Sanddünen. Außer Atem kommt er beim Boot an und sagt: Entschuldige, geschätzter Imam, ich bin so vergesslich und bin mir jetzt nicht mehr sicher, wie die Anbetungsformel richtig lautet. Erkläre es mir noch einmal, dann merke ich es mir sicher.




Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen.



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